Zunächst kamen die Aramäer im Zuge der Gastarbeiteranwerbung der 1960er Jahre vereinzelt nach Deutschland. Nach dem Gastarbeiteranwerbestopp gab es eine weitere große Auswanderungswelle aus den angestammten Gebieten im Südosten der Türkei, dem Tur Abdin. Diese fand in den 1980er Jahren statt, als die Aramäer im türkisch-kurdischen Bürgerkrieg drohten, zwischen den Fronten aufgerieben zu werden. Sie standen schon rein geographisch zwischen dem türkischem Militär auf der einen Seite und der in Deutschland verbotenen Kurdenpartei PKK auf der anderen Seite, die ihrerseits für ein unabhängiges Kurdistan kämpfen wollten. Der Tur Abdin (aram.: Berg der Gottesknechte), die Urheimat der meisten Aramäer und aufgrund der zahlreichen Kirchen und Klöster so genannt, sollte von den Aramäern gesäubert werden. So kam es in den Jahren von 1990 bis 1994 zu 30 Morden an aramäischen Bürgern.
Was folgte war eine erneute Auswanderungswelle in die westlichen, und noch viel wichtiger, freien Industriestaaten. So zog es viele Aramäer aus der Türkei, später aber auch aus Syrien, dem Libanon und dem Irak, vermehrt in Richtung West- und Nordeuropa. Zunächst als Flüchtlinge ohne geregelten rechtlichen Status, erhielten die Aramäer schließlich das Recht auf Asyl und hatten nunmehr die Möglichkeit, sich hier ein neues Leben aufzubauen.
Heute leben in der gesamten Türkei nur noch geschätzt 2000 Aramäer, in Syrien und dem Irak sind es noch weitaus mehr, allerdings ist die Migrationsbewegung Richtung Westen nicht zuletzt auf Grund der anhaltenden Konflikte in diesen Ländern sehr stark, sodass damit gerechnet werden muss, dass es in Zukunft im gesamten Nahen Osten nur noch vereinzelte Inseln mit aramäischer Bevölkerung geben wird.
Eine neue Heimat haben die Aramäer unterdessen in den USA, Australien, Brasilien aber noch mehr in den europäischen Ländern Deutschland, den Niederlanden und Schweden gefunden. Dort haben sich in den vergangenen Jahrzehnten prosperierende Gemeinden entwickelt. Besonders zu erwähnen sind hier der Stockholmer Vorort Södertälje, in welchem die Aramäer mit 20.000 von 60.000 Einwohnern jeden dritten Bewohner der Stadt stellen. In Deutschland finden sich die meisten Aramäer im Kreis Gütersloh (ca. 12.000) und im Ballungsgebiet um die Städte Stuttgart, Heidelberg und Heilbronn.
Durch die Tatsache, dass an eine Rückkehr in die Heimatländer nicht oder nur schwerlich gedacht werden konnte, haben sich die Aramäer extrem schnell integriert und zum Teil auch assimiliert. Eine Heirat mit anderen Bevölkerungsgruppen stellt keine Seltenheit dar und zeigt, dass die Aramäer sich der Gesellschaft in Deutschland geöffnet haben und Teil dieser Gesellschaft geworden sind. Sie nehmen am öffentlichen und kulturellen Leben teil und bilden teils auch selber Anlaufstellen, um das Miteinander zu pflegen und die aramäische Kultur zu präsentieren.
Viele Aramäer der zweiten und insbesondere der dritten Generation legen großen Wert auf Bildung und beruflichen Erfolg, sodass wir eine stattliche Anzahl an Akademikern vorweisen können, die sich bisweilen in eigenen Netzwerken, so z.B. dem Kreis Aramäischer Studierender (KRAS) als auch KANO Suryoyo zusammengeschlossen haben. Besonders hervorzuheben ist die große Anzahl an aramäischen Unternehmen in der Stadt Gütersloh. Zudem finden sich alleine im Kreis Gütersloh derzeit sechs aramäische Vereine, die sowohl sportliche als auch kulturelle Arbeit übernehmen.
Erste Schritte in der Diaspora
Insbesondere die Anfangszeit in der Diaspora gestaltete sich für viele Aramäer höchstschwierig. Auch wenn vereinzelt Aramäer mit einem hohen Bildungsstand in den Westen migrierten, wuchsen die meisten Aramäer, insbesondere in der Türkei, mit einem nur geringen Bildungsstand, gemessen an den hier herrschenden Standards, auf.
So war es den Aramäern in den 1970er und 1980er Jahren vornehmlich bestimmt, als Hilfsarbeiter tätig zu werden, so z.B. in den großen Gütersloher Unternehmen Bertelsmann, Miele, Vossen und weitere. Es gab jedoch auch zu Anfang bereits Aramäer, die ihr in der Heimat erlerntes Handwerk, beispielsweise als Goldschmiede, Schneider und ähnlichem auch in den neuen Ländern ausübten.
Aramäer in den westlichen Ländern einer Wertewelt gegenüber, die, trotz des verbindenden christlichen Glaubens, in großen Teilen ziemlich unterschiedliche Vorstellungen prägte. So war und ist es auch heute für die meisten Aramäer völlig abwegig, vor der Hochzeit einen Partner zu haben oder gar mit diesem zusammenzuleben. Auch war das Verhältnis zur Familie und der Verwandtschaft viel stärker ausgeprägt, als es in den hiesigen Gesellschaften der Fall war. Dies ist das Resultat der orientalischen Kultur und Lebensweise, die das Kollektiv stets über die individuellen Bedürfnisse stellt. Bisweilen hat sich aber auch diese Lebensweise aufgelockert, wenngleich die Familie immer noch einen extrem hohen Stellenwert bei den Aramäern genießt.
Ganz oben im Wertekanon stand jedoch immer der christliche, in den meisten Fällen der syrisch-orthodoxe, Glaube. So war es das größte Bedürfnis der aramäischen Christen auch in der Diaspora Gotteshäuser zu errichten, die sowohl für das gemeinsame Gebet, aber auch als Anlaufstelle und Versammlungsorte dienten, in welchen sie ihre Kultur und Sprache pflegen konnten. Zu Anfang wurden auch häufig Kirchen anderer Konfessionen genutzt, bis man über die Nutzung von anfänglich kleinen Sälen hin dazu übergegangen ist, in jeder Stadt mit einem signifikanten aramäischen Bevölkerungsanteil eine, wenn nicht sogar mehrere Kirchen zu bauen. Heute stehen in der Stadt Gütersloh mit der St. Maria Kirche, der St. Lukas Kirche und der St. Stephanus Kirche gleich drei Kirchen für die jeweiligen Gemeinden und Gläubigen als Gotteshäuser zur Verfügung.
Heutige Situation der Aramäer in der Diaspora
In den letzten beiden Jahrzehnten haben immer mehr Aramäer die deutsche Staatsbürgerschaft, und mit ihr auch gleich zu einem großen Teil die Lebensweise des Landes mit übernommen. Dies ist sicherlich ein Schritt, der das Zusammenleben und die Integration noch mehr fördert, auf der anderen Seite aber auch die kulturelle und religiöse Identität vieler Aramäer untergräbt. Einige kleine Hoffnungsschimmer blitzten vor einigen Jahren durch, als 2001 in Baden-Württemberg sowie Nordrhein-Westfalen der syrisch-orthodoxe Religionsunterricht in den Lehrplan aufgenommen wurde und als ein Gesetz verabschiedet wurde, nach welchem die Aramäer die ihnen aufgezwungenen türkischen Nachnamen ablegen und stattdessen ihre ursprünglichen aramäischen Nachnamen annehmen durften. Viele Aramäer haben davon Gebrauch gemacht und damit ein Signal gesetzt, welches einen kleinen identitätsstiftenden Impuls senden konnte. Allerdings scheint die immer größer werdende Distanz zu den ursprünglichen Elementen ihrer Kultur dies schlussendlich zu verhindern. So finden sich im Gottesdienst kaum junge Menschen und auch der Alltagsgebrauch der aramäischen Sprache geht immer mehr zurück, sodass die nächste Generation, wenn überhaupt, nur noch rudimentäres Aramäisch sprechen wird, sollten keine Maßnahmen ergriffen werden. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, haben es sich die verschiedenen Gremien innerhalb der St. Stephanus Gemeinde zur Aufgabe gemacht die Kultur, Tradition, Sprache und den Glauben der Aramäer zu pflegen, indem sie muttersprachlichen Unterricht anbieten, Jugendgottesdienste veranstalten, Feste organisieren und gemeinsam mit dem Aramäischen Volksverein Gütersloh Veranstaltungen durchführen, die ebendieses kulturelle Erbe mit der Moderne verbinden soll.
Mehrere Dachorganisationen sorgen dafür, dass sowohl überregional, national und international zusammengearbeitet wird. So ist der Bundesverband der Aramäer in Deutschland ein Teil des Weltverbandes, unter dessen Dach sich die nationalen Verbände vereinigen. Dazu kommt das Patriarchat der Heiligen Syrisch-Orthodoxen Kirche, eine der ältesten Kirchen der Welt, welche in fast allen Ländern mit einem nennenswerten aramäischen Bevölkerungsanteil ein Bistum unterhält.
Zusammen mit mehreren international agierenden Fernsehsendern haben sich die Aramäer eine Heimat aufgebaut, die frei ist von nationalen Grenzen. Allerdings ist die Sehnsucht nach einer eigenen Heimat, in welcher die Aramäer als Kulturnation mit der jahrtausendealten Tradition überleben können immer noch lebendig. Ohne diese Heimat wird es langfristig nur möglich sein, die aramäische Kultur am Leben zu erhalten, wenn die Gemeinden eine starke, verlässliche und nachhaltige Arbeit betreiben, um diese Kultur und mit ihr die Sprache zu bewahren.