In den Werken vieler Kirchenväter steht geschrieben, dass das Aramäische die Erste Sprache der Welt ist. Mor Ephräm der Aramäer schreibt folgendes: „Es ist falsch zu sagen, wie viele Historiker es behaupten, dass Hebräisch die älteste Sprache der Welt sei; es ist das Aramäische.“ Bar Hebräus (+ 1285 n. Chr.) untermauert seine These und fügt hinzu, dass Abraham erst nachdem er den Fluss Euphrat überquert hat, Hebräer genannt wurde. Er stammte aus der Stadt Ur und war ein Aramäer. Mor Michoel der Große (+ 1126 n. Chr.) sowie Bar Salibi (+ 1171 n. Chr.) vertreten dieselbe Meinung. Sogar der Scheich Es-Seyh Abdul Aziz lehnt es ab, dass die erste Sprache der Welt arabisch sein könnte. Hierbei sei angemerkt, dass arabisch aus dem Aramäischen stammte. Er sagt: „Das Aramäische ist ohne Zweifel die Sprache des Paradieses. Adam sprach mit seinen Kindern aramäisch. Die Besonderheit dieser Sprache ist es, dass man mit wenigen Wörtern vieles erklären kann. Das ist bei den anderen Sprachen nicht der Fall.“
Die Griechen entliehen sich nicht nur ihr Alphabet von den Semiten (Aramäer) und die Grundlage ihrer Kultur aus dem Nahen Osten; auch den Namen für den ganzen Kontinent Europa – semitisch; ereb = dunkel – übernahmen sie laut ihren Sagen von Europa, der nach der Kreta, resp. Böotien entführten Tochter des Königs Agenor von Tyrus in Phönizien. Ebenso sind viele „griechische“ Fabeln, wie z. B. die des Äsop, orientalischen Quellen entlehnt. Dasselbe ist mit dem aus dem Nahen Osten stammenden Christentum der Fall. Zu den aramäischen Dialekten gehören Altaramäisch, Reichsaramäisch, Westaramäisch (einschließlich Palästinisch und Galiläisch) und Ostaramäisch. Im Ostaramäischen entwickelte sich auch eine umfangreiche Literatur, besonders vom 3. bis 7. Jahrhundert.
Das Stammland der syrisch-orthodoxen Kirche ist Aram (das heutige Syrien), jedoch nicht in der modernen, sondern in der spätantiken Bedeutung dieses Namens. Die Gebiete des heutigen Syrien, des Libanon, Jordaniens, Israels bzw. Palästinas, der Nordrand der arabischen Halbinsel, die Sinaihalbinsel und nicht zuletzt das Vierstromland Mesopotamien (Aram-Nahrin) im Südosten der heutigen Türkei und im Irak waren damals „Syrien“. Wir nennen es im folgenden der Einfachheit halber und zur Unterscheidung vom modernen Staat Syrien das alte Syrien.
Die Heimat der meisten aramäischen Christen in Westeuropa ist der Tur Abdin im Nordwesten Mesopotamiens in der Türkei; sie entstammen also einer der ältesten Kulturlandschaften der Erde.
Verkehrssprache im alten Syrien war Aramäisch (etwa seit dem 6. Jh. v. Chr.), später auch Griechisch (ab dem 3. Jh. v. Chr.). Jesus und seine Jünger sprachen Aramäisch. Es gehört wie z.B. Hebräisch und Arabisch zur semitischen Sprachfamilie und bildete viele Dialekte aus. Die wichtigste Form des christlichen Aramäischen ist das Syrische mit einer eigenen Schrift (nicht zu verwechseln mit der Sprache des heutigen Syrien, dem Arabischen!). Es brachte besonders vom dritten bis zum dreizehnten Jahrhundert eine umfangreiche und vielfältige Literatur hervor.
Antiochien (Antiócheia, heute Antakya im Süden der Türkei, etwa 30 Kilometer östlich der Mittelmeerküste), die drittgrößte Stadt des römischen Reiches, war Hauptstadt der Provinz Syrien und später der Reichsdiözese Oriens (Orient, Osten). Antiochien erlangte größte Bedeutung für die Anfänge des Christentums. Hier entstand die erste heidenchristliche Gemeinde, und hier wurden die Christusgläubigen erstmals Christen genannt (Apg 11.19-21.26). Von hier brach der Apostel Paulus zu seinen drei Missionsreisen nach Westen und Norden auf (Apg 13:1-3; 15:35-40; 18:22f.); ausserdem wurde die Stadt zum Zentrum für die Verbreitung des Christentums nach Osten.
Das Oberhaupt der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien, der Patriarch, ist als Erzbischof von Antiochien (mit Sitz in Damaskus) wie der Bischof und Papst von Rom ein Nachfolger Petri im örtlichen Bischofsamt, doch ohne deshalb Vollmacht über alle Christen (universalkirchliche Jurisdiktion) zu beanspruchen. Die syrisch-orthodoxe Kirche ist freilich nach der wechselvollen Geschichte des Streits um den rechten Glauben und mancherlei Kirchenspaltungen nicht die einzige, die sich auf die antiochenische Tradition beruft, so dass es bis heute noch vier Oberhäupter anderer Kirchen mit dem Titel des Patriarchen von Antiochien gibt (die indessen alle nicht mehr in Antiochien residieren).
Das alte Syrien und Ägypten sind die Ursprungsländer des christlichen Mönchtums. Dessen Geist, der Geist der Umkehr, Einfachheit, der vollen Hingabe an Gott und der wachen Erwartung Jesu Christi hat die syrischen Kirchen zutiefst durchdrungen und ist bei den aramäischen Gläubigen noch heute nicht vergessen. Sie versuchen vielfach, das einst so blühende Mönchtum, das wie ihre ganze Kirche unter schwierigen Verhältnissen, Drangsal und Verfolgungen gelitten hat und zurückgegangen ist, zu fördern und sich für seine geistliche Ausstrahlung offenzuhalten. Die Durchdringung mit einer Haltung des Gebetes macht sich in den immer noch, trotz mancherlei Kürzungen, oft recht langen Gottesdiensten bemerkbar, die dem Menschen, der sich Zeit nimmt, auch Zeit geben, aufzuatmen und sich auf Gottes Ruf einzulassen, und am auch heute noch von nicht wenigen gepflegten Kirchgang an Werktagen, besonders in der Fastenzeit vor Ostern.
Hier fällt ein weiteres wichtiges Stichwort: Fasten. Es ist kirchlich geboten und wird noch von vielen gehalten; Kranke, Schwangere, Stillende und kleine Kinder sind ausgenommen. Es besteht in der Enthaltung von Speise und Trank bis zum Mittag oder freiwillig länger (nicht an Sonntagen und Samstagen) und im Verzicht auf Alkohol sowie Speisen tierischer Herkunft einschließlich von Eiern, Milch und Milchprodukten. Dies ist eine Erinnerung an den paradiesischen Menschen- und Tierfrieden (Gen 1:29f.; vgl. demgegenüber Gen 9:2f.; Fisch wird erst seit neuerer Zeit zugestanden). Zum Fasten gehören das verstärkte Gebet und Almosen. Gefastet wird nach urchristlich bezeugtem Brauch mittwochs und freitags (außerhalb der Osterzeit und wenn es kein Fest trifft) und vierzig Tage zuzüglich der Karwoche vor Ostern. Ausserdem gibt es noch fünf weitere kleinere Fastenzeiten. Die Fastenden wissen, dass sich Sattheit und Gebet nicht vertragen; sie nähren in sich die Überzeugung, dass nicht der Konsum, sondern Gott ihr höchstes Gut ist, und wollen ihn nicht nur um dies und das bitten, sondern dem Heiligen Geist Raum geben, an ihnen zu arbeiten und sie zu anderen Menschen zu machen. Dies ist besonders in der vorösterlichen Fastenzeit zu erleben, wenn sie (ganz wie es Benedikt von Nursia seinen Mönchen empfiehlt) in der Freude einer geistlichen Sehnsucht das heilige Ostern erwarten.
Die syrisch-orthodoxe Kirche kannte so gut wie nie staatliche Begünstigung, sondern fast ständige Behinderung. Um so ausgeprägter ist unter den Gläubigen das Bewusstsein eigener Verantwortung für ihre Kirche, auch in finanzieller Hinsicht. Gemeindegründung und Kirchbau gehen immer auf ihre Initiative zurück. Die verheirateten Gemeindepriester gehen aus den Gemeinden hervor, genauer gesagt aus den Reihen der Subdiakone und der seltenen Diakone. Kandidaten werden dem Bischof von der Gemeinde oder der Gemeinde vom Bischof vorgeschlagen. Da die Mühen des priesterlichen Dienstes von der Ehefrau mitgetragen werden, ist zur Weihe ihre Zustimmung erforderlich. Zu Bischöfen werden Mönchspriester oder verwitwete Gemeindepriester bestellt.
Die Jahrhunderte hindurch hat sich die syrisch-orthodoxe Kirche um die Weitergabe des Glaubens, der syrischen Sprache und spirituellen Kultur auch durch Schulung bemüht. Den Stand des kirchlichen Lehrers (Malfono) hat sie von der christlichen Antike bis heute erhalten. Die Lehrer üben ihr Amt entweder unentgeltlich zusätzlich zu einer Erwerbstätigkeit oder von ihrer Gemeinde unterhalten hauptberuflich aus. Von ihnen sowie Mönchen und Priestern wurden auch die biblischen, sehr umfangreichen liturgischen und andere Bücher kopiert, und zwar mit Vorliebe kalligraphisch. Noch heute zieht man das schöne kalligraphierte (und dann fotokopierte) Buch dem gedruckten oder am Computer erstellten vor. Dies alles und die mündliche Weitergabe des Schatzes der kirchlichen Melodien (es gibt keine Notation) stellen eine Überlieferungsleistung kaum vorstellbaren Ausmaßes dar, wenn man bedenkt, wie schwierig die Lebensumstände der kleinen aramäischen Minderheit zumal des Tur Abdin inmitten einer ihr oft feindlich gesinnten Umwelt waren und sind. Ein gezieltes missionarisches Wirken war dort nicht möglich. Diese Christen bezeugten ihren Glauben durch ihr Beharrungsvermögen und ihre Bereitschaft, für ihn Anfeindungen und Schikanen hinzunehmen oder sogar in den Tod zu gehen.
Westsyrische Tradition:
Syrisch-orthodoxe Kirche von Antiochien
Syrisch-katholische Kirche von Antiochien (uniert)
Maronitische Kirche (katholisch)
Ostsyrische Tradition:
Apostolische Kirche des Ostens
Chaldäische Kirche (uniert)
Byzantinische Tradition:
Griechisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien
Griechisch-Orthodoxe Kirche von Jerusalem
Griechisch-katholische (Melkitische) Kirche (uniert)
Weitere Orientalische Traditionen:
Koptische Kirche (orientalisch-orthodox und uniert)
Armenische Kirche (orientalisch-orthodox und uniert)
Das Christentum hat seine Wurzeln im Orient.
Deshalb bewahren die Kirchen des Orients im Vergleich zur römischen und byzantinischen Tradition manches Erbe in ursprünglicherer Weise. Viele östliche Kirchenväter haben sehr früh den Glauben vertieft und damit das Abendland beschenkt.
Durch die muslimische Eroberung im 7. Jh. und viele widrige Ereignisse in der weiteren Geschichte kamen die Christen des Orients oft in große Bedrängnisse, die sich gegenwärtig aufs neue verstärkt haben. Den Christen im Westen ist es gar nicht bewusst, in welch schwieriger Situation christliche Schwestern und Brüder in der heutigen arabischen Welt leben.
Die Christen im Orient haben ihr Erbe in verschiedenen Traditionen bewahrt. Sie versuchen zu immer größerer Einheit zu gelangen. Nur geeint ist es ihnen möglich, inmitten einer muslimischen Umwelt ein lebendiges Zeugnis für Christus abzulegen.
Der in einer anderen Kultur gewachsene christliche Glaube und die eigene Spiritualität in Liturgie und Frömmigkeit stellen für die abendländische christliche Welt eine Bereicherung und Herausforderung dar, die es weithin erst zu entdecken und auszuschöpfen gilt. Ein gegenseitiger Austausch ist für beide Seiten ein Gewinn.
Die Christen des Orients dürfen nicht die vergessenen Christen bleiben. Ihre gegenwärtige schwierige Situation fordert unsere Solidarität, die besonders junge Menschen ermutigen soll, in der angestammten Heimat zu bleiben und dort den christlichen Glauben zu leben und zu bezeugen.